Frühjahrstagung der Schweizerischen Evangelischen Pfarrgemeinschaft
im Ländli, vom 12.-14. März 2023

Die Rückkehr der Augenzeugen – Tagung der Schweizerischen Pfarrgemeinschaft mit Hanna und Christian Stettler

Die mit über 50 sehr gut besuchte Tagung im Tagungszentrum Ländli am Ägerisee war neueren Entwicklungen in der Evangelienforschung gewidmet. Eindrücklich war auch der Gemeinschaftsabend mit der Aufnahme eines neuen Mitglieds und dem Abendmahl, das durch die jüngere Generation der Gemeinschaft sehr berührend gestaltet wurde. Und ebenso der Austausch in den Bibellesegruppen.

Im Mittelpunkt der Tagung stand die Frage der Überlieferung der Evangelien. Mit Hanna Stettler, Dozentin in Tübingen, und Christian Stettler, Dozent an der Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel konnten wir von ihrem Fachwissen in einem im deutschsprachigen Umfeld bisher vernachlässigten Bereich, der Frage der Zuverlässigkeit der in den Evangelien erwähnten Augenzeugen, reich profitieren.

Nach wie vor ist die historisch-kritische Forschung in der Ausbildung unseres stark abnehmenden theologischen Nachwuchses mit Ausnahme von nicht-staatlichen Institutionen vorherrschend. Ihre Anfänge liegen in der 1835 erschienen Schrift «Das Leben Jesu kritisch betrachtet» von David Friedrich Strauss, der die Erzählungen der Evangelien für unhistorisch hielt und als Mythen betrachtete. Was damals höchst bestritten war, gilt heute für jene, die diese Ansicht zu hinterfragen wagen und dem biblischen Zeugnis folgen, dass die Evangelien auf der Basis glaubwürdiger Zeugenaussagen entstanden sind.

Schon immer gab es begründete Einwände gegenüber der Abwertung der biblischen Selbstaussagen – etwa im Prolog des Lukasevangeliums und in der Apostelgeschichte. Als Augenzeugen gelten dort jene, die von «Anfang an bis zur Auferstehung Jesu «mit dabei waren» (Joh 15,26-27). Prominent erscheint in diesem Zusammenhang Petrus, der fast immer dabei war (die «Petrus-Klammer», die sich am Beginn und Abschluss des Markus- und Lukasevangeliums zeigt). Zu den Augenzeugen zählen neben den Jüngern eine Gruppe von Frauen und die Familie Jesu – und damit der Kern der Urgemeinde.

Wie aber ist ihre Glaubwürdigkeit einzuschätzen? Verdecken sie mehr als sie aufdecken (Käsemann)? Wie war es damals mit der Kultur der Erinnerung? Bereits der Schwede Birger Gerhardsson ging zu Beginn der 60-er Jahre des letzten Jahrhunderts der zur Zeit Jesu geltenden Weitergabe und Entwicklung mündlicher Überlieferungen in den Evangelientexten nach. Später war es Rainer Riesner in seiner Dissertation «Jesus als Lehrer».

Traditionsweitergabe folgt immer dem Muster «Erfassen, Speichern, Abrufen». Im Vergleich zur Gegenwart bestehen riesige Unterschiede. Unsere heutige Erinnerungsfähigkeit ist durch das Übermass an Impulsen sehr begrenzt. Sie ist mehr ein kreativer Prozess als eine bewahrende Funktion.

Damals gab es ein kommunikatives Gedächtnis bis hin zu Augenzeugen, das sorgfältig bewahrt wurde, und das den Lokalkolorit bis hin zu geographischen Details erkennen lässt.

Hilfreich für die Überlieferung war die damals übliche Art der Lehre, die auch Jesus benutzte, und die das Auswendiglernen erleichterte. Zudem erzählen die Evangelien auch, wie die Jünger versagt haben. Wäre die Lehre der Apostel nur ein «social memory», dann hätten sie aus sich Helden machen müssen.

Ein Lehrer wiederholt, bis der Schüler etwas auswendig weiss. Diese Regel zeigt sich immer wieder bei Jesus. Es war damals auch üblich, dass bereits Kinder und dabei als erstes Leviticus auswendig lernten.

Jesus benutzte in seiner Lehtre übliche memnotechnische Mittel, etwa mit der Aufforderung «Wer Ohren hat, zu hören, der höre…». Aber auch poetische Formungen, Parallelismus membrorum, Wortspiele, Reime, Rhythmen, Bilder/Gleichnisse.

Wie aber kommt es zu Abweichungen in den verschiedenen Evangelien? Mündliche Erinnerung ist nicht in allem eine Wort-zu-Wort-Erinnerung: «The same yet different» (James Dunn). Riesner konnte nachweisen, dass 80% der Jesusworte, die wir heute haben, eine Struktur aufweisen, die zum Auswendiglernen helfen.

Beim Entstehungsprozess der Evangelien kam es zur unmittelbaren Widergabe schriftlicher und mündlicher Quellen und ebenso zur auswendigen Wiedergabe schriftlicher und mündlicher Quellen.

Kenneth E. Bailey (1930-2016) lebte 40 Jahre im Nahen Osten und war damit mit der Kultur vertraut, in der auch Jesus lebte. Wir dagegen sind uns gewohnt, Jesus mit einer «europäischen Brille» zu sehen. Bailey erlebte mit, wie im Nahen Osten Geschichten erzählt wurden. Schon bei geringer Abweichung wurde der Erzähler von den Zuhörern korrigiert. In der übernächsten Generation waren 90% der Geschichten genau gleich erzählt.

Aber kein Zeuge ist 100% neutral und objektiv, das gibt es gar nicht. Auch in den Naturwissenschaften gibt es keine Neutralität und Objektivität im eigentlichen Sinn. Die Wahrnehmung, wie wir etwas sehen und uns erinnern, bleibt verschieden. Das führt zu Abweichungen beim Festhalten der Erinnerungen, was ein natürlicher Prozess ist, der sich auch in den Evangelien spiegelt.

Die biblischen Gotteserfahrungen sind Wahrnehmungen, die auf Sehen UND Hören beruhen. Und für den biblischen Glauben ist es durchaus wesentlich, dass sie sich auf historisches Geschehen beziehen und nicht einfach Mythen sind.

Max Hartmann

Bild: Abendmahl beim Gemeinschaftsabend (Foto Max Hartmann)